Tocqueville und die seltsame Entwicklung des Neoliberalismus

Philip Plickert hat einen guten Artikel in der FAZ zur Geschichte des Neoliberalismus geschrieben. Er beschreibt, wie sich in den Zeiten der großen Ideologien vor allem deutsche bürgerliche Denker u.a. in der Mont-Pelerin- Society zusammenfanden, um bürgerlichem Gedankengut das Überleben zu sichern, dass sich dieser anfängliche Geist, der im Sinne einer Einhegung agierte, im Laufe der Zeit zunehmend radikalisierte.

Der Autor bringt die Hintergründe auf den Punkt: Als die amerikanischen Konzerne begannen systematisch ihre Interessen zu organisieren, sprengten sie den institutionellen Rahmen, der Eucken und anderen so wichtig war. Die Interessengruppen ließen von nun an vermehrt ihre Macht im Staate spüren. (Und das sehen wir ja auch heute nur zu deutlich – wenn sowohl Obama und McCain versuchen die wichtigsten Interessengruppen zu bedienen).

Und natürlich kann man dann folgern, dass bei dieser Lage sowenig Staat wie möglich die richtige Lösung sei, was jüngere Radikale wie Friedman, Buchanan und Hayek auch taten, ganz im Gegensatz zu Rüstow und Röpke, die alsbald aus der Mont-Pelerin-Society austraten. Nur ist das Resultat dieser Rhetorik beängstigend. Der (wohl recht deutsche) Ordnungsgedanke mit seinen Ideen von Kontrolle und Kompetenzzuweisung ist mittlerweile arg beschädigt, was man an den verschiedenen Skandalen – Enron, Subprime, SEC, Fanny, u. v. a – gut erkennen kann.

Und die Rufe nach weniger Staat haben zwar zu einer geringeren Staatsquote geführt – allerdings zu Lasten der sozial Schwachen. Die Vermischung von Staat und Wirtschaft – oft recht deutlich zu sehen an den Mischkarrieren in Wirtschaft und Verwaltung (Cheney, Schröder, Clement) hat jedoch eher zugenommen, weshalb man in vielen Bereichen kaum noch von fairer Konkurrenz sprechen kann. Deshalb wird wohl auch der Siemens-Skandal kaum mehr als Skandal wahrgenommen, sondern als eine Art Normalität – um in einer bestimmten Größenklasse Erfolg zu haben, muss man einfach die richtigen Leute kennen.

Und genau diese Doppelmoral ist es, welche den Neoliberalismus so unbeliebt macht – denn er redet, theoretisch mitunter recht elegant – den Mächtigen das Wort und ist normativ banal. Fügen wir noch einen vielleicht recht deutschen Gedanken hinzu (was vielleicht auch den Aufschwung rechten Denkens miterklärt) – unsere heutigen Politiker sind bis auf wenige Ausnahmen weit von preussischen Tugenden entfernt – es gibt einfach kaum noch aufrichtige, ehrliche und gut erzogene Männer, sondern zusehends auf ihre Privilegien bedachte, manipulierende und verweichlichte Schwätzer, wenn nicht sogar Lügner.

Und genau das droht zum Problem zu werden. Tocqueville hat gut anhand des Untergangs des Ancien Regimes beschrieben, was passiert, wenn die Elite sich nicht mehr um die Belange des Volkes kümmert. Der französiche Adel war ständig in Paris und kaum noch mit der Bevölkerung in Kontakt, ganz im Gegensatz zum englischen, der das Volk zwar mit ähnlich hohen Steuern und Abgaben belegte, aus systemischen Gründen aber stärker um dessen Belange wusste.

Der Haussegen hängt also schief, was sich gut an der sinkenden Wahlbeteiligung und der steigenden Politikverdrossenheit in Europa ablesen lässt. Die amerikanische Wahlbeteiligung ist ja eh viel geringer als die europäische.

Die Lösung scheint mir daher – und vielleicht bin ich hier etwas altmodisch – nicht die Erfindung einer neuen politischen Utopie, sondern die Rückkehr zu typisch mittelständischen, bürgerlichen Tugenden zu sein – klare Buchführung, Trennung von Verantwortlichkeiten, nachvollziehbare Karrieren nach dem Leistungsprinzip, etc.

Und dies, und damit möchte ich schliessen, ist ein sehr alter Konflikt – nämlich der zwischen autoritärem Staatskapitalismus und protestantischen bürgerlichen Tugenden. Und ein Überhandnehmen des ersteren hat nicht nur Spanien die Weltherrschaft gekostet, sondern droht auch Amerikas Position zu bedrohen: Irgendwann muss man seine Hausaufgaben machen und sich um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Bevölkerung und Wirtschaft kümmern. Irgendwann reichen immer neue Kriege nicht mehr aus, um ein an sich parasitäres und oft ineffizientes System zu tragen.

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4 Kommentare - “Tocqueville und die seltsame Entwicklung des Neoliberalismus”

  1. FloG Says:

    Endlich mal wieder ein Post hier \o/

  2. jo@chim Says:

    Muss man nicht ziemlich realitätsfern sein, wenn man die (Mit-)Verantwortung für den „autoritären Staatskapitalismus“* radikale(re)n Liberalen wie Hayek und Friedman zuzuordnet, und nicht den viel wirkungsmächtigeren Linksliberalen bzw. ihren Illusionen über die Möglichkeit einer regulierten Marktwirtschaft?

    (*als „staatlich versumpften Kapitalismus mit seinem Geklüngel zwischen big government und big business“ hat der radikale Liberale Roland Baader dieses real existierende Zerrbild der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards bezeichnet…)

    P.S.: mich wundert, dass Ihr hier die Selbstbezeichnung der Ordoliberalen als Neoliberale im Sinne des linken Kampfbegriffes verballhornt. Das haben Neoliberale wie Röpke oder Eucken nicht verdient.

  3. Bernd Says:

    Ende eller Blogaktivitäten?

  4. Bernd Says:

    Sorry „aller“ Blogaktivitäten muss es heissen


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